• "Unter Arzneimitteln versteht Galen diejenigen Substanzen, welche im Gegensatz zu den Nahrungsmitteln in unserem Organismus gewisse Alterationen hervorbringen. Sie zerfallen in 3 Klassen:
    Zur ersten gehören diejenigen Medicamente, bei denen lediglich die Elementarqualitäten des Heissen, Kalten, Trocknen und Feuchten hervortreten, also die einfach heiss-, kalt-, trocken- und feuchtmachenden Mittel. Zur zweiten Klasse gehören diejenigen Medicamente, die neben dieser Hauptwirkung noch eine Nebenwirkung besitzen. So haben z. B. die bitteren Mittel einen höheren, die süssen einen geringeren Grad von Wärme, die säuern Mittel sind kalt. Hierher gehören die durch Combination der Haupt- und Nebenwirkung enstandenen süssen, bittern, herben, scharfen, verdichtenden, contrahirenden, lockernden, erweichenden u. s. w. Mittel.
    Zur dritten Klasse gehören die Specifica: z. B. Breeh-, Abführ-, granulationsbildendeetc. Mittel.
    Jedes Mittel, sei es zur 1 , 2., oder 3. Klasse gehörig, kann seine Wirkung in 4 verschiedenen Intensitätsgraden entfalten. Besitzt das Mittel die Elementarqualitäten des Feuchten, Trocknen, Kalten und Heissen in gleichem Intensitätsgrade wie der Körper, dem es dienen soll, so dass es weder feucht, trocken, kalt oder warm macht, so nennt man es symmetrisch oder temperirt, also, um eine moderne Bezeichnung zur verwenden, indifferent, wie z. B. Oel. Treten eine oder mehrere der 4 Elementarqualitäten den übrigen gegenüber in den Vordergrund, so resultiren differente Medicamente, deren Wirksamkeit, wie erwähnt, nach 4 Intensitätsgraden eingetheilt wird.

    Den ersten Grad nehmen diejenigen Mittel ein, welche eine geringe, sinnlich kaum wahrnehmbare Wirkung entfalten, den zweiten diejenigen, deren Wirkung merklich, deutlich hervortritt, den dritten die energisch, heftig wirkenden, den vierten die die Substanz an greifenden, zerstörend wirkenden Mittel. Jeder der 4 Grade zerfällt wieder in 3 Unterabtheilungen, je nachdem das Mittel den Anfang, die Mitte oder das Ende eines jeden enzelnen der 4 Grade einnimmt. Die narkotischen Gifte, z. B. Opium, Mandragora, Conium u. s. w. nehmen den 4. Grad kaltmachender Wirkung bis zum Ende desselben (Conium) ein, während die heissmachenden und ätzenden wie Hahnenfuss-, Euphorbiumarten, den 4. Grad heissmachender Wirkung einnehmen. Die Rose hat z. B. kühlende Wirkung im 2. Grade, das aus Rosensaft und einem indifferenten Oel bereitete Rosenöl kühlende Wirkung im ersten Grade. (Die Wirkung der Rose wird durch das indifferente Oel um einen Grad abgeschwächt).
    Manche Arzneimittel, die scheinbar einfach sind und nur nach einer Richtung hin wirken können, sind de facto zusammengesetzt und können auf diese Weise conträre Wirkungen enthalten. So wirkt z. B. Milch abführend und stopfend, ersteres durch die Molken, letzteres durch den Käse. Bei anderen Mitteln lassen sich aber die wirksamen Principien nicht isoliren , wie bei der Milch ; z. B. bei Wein; junger Wein kühlt nämlich, während alter Wein bei längerer Ablagerung erwärmender Wirkung theilhaftig wird.
    Eine besonders wichtige Rolle spielen die Gegengifte. Antidote umfassen bei Galen einen weiteren Begriff. Sie werden nicht nur gegen Vergiftungen, sondern überhaupt gegen Krankheiten innerlich angewendet, bedeuten also innere Mittel. Die Gegengifte wirken entweder dadurch, dass sie das in den Körper gelangte Gift zersetzen, oder aber es entleeren (ausscheiden)....

    Galens Verdienst ist es nun, die Hippokratische Doctrin von dem Ballast der abenteuerlichsten philosophischen Speculationen befreit, sie mit den Lehren Platos und Aristoteles in Einklang gebracht und sie, in einer festen Formel fixirt, Europa geschenkt zu haben....
    Nach dem Zusammenbruche des Römischen Weltreiches und der Vernichtung der abendländischen Kultur durch die Stürme der Völkerwanderung wurden die Araber die Pfleger der Lehre von der Humoral-Pathologie Galens. In Nordafrika, Spanien und Süditalien entstanden blühende Kulturstaaten, in denen die Medicin Galens durch zahlreiche Uebersetzungen und Kommentare eifrig gefördert wurde. Die berühmten medicinischen Schulen zu Salerno in Süd-Italien und zu Montpellier in Süd-Frankreich wurden im 12. Jahrhundert zu den eigentlichen „Einbruchsorten“ für die durch die Kreuzzüge dem Verständnisse des Occidents näher gebrachte Wissenschaft des Orients, speciell für die Medicin der Araber. Ebenso eifrig wurde die Medicin Galens in den Benediktiner- Klöstern gepflegt....
    Als man erkannte, dass die Pathologie der Araber aus griechischen Autoren geschöpft sei, machte man sich daran, die arabischen Uebersetzungen der letzteren in das Lateinische zu übertragen, und diese, erst sehr viel später nach den Originalquellen revidirten uebersetzungen sind die Grundlage des Studiums für viele Generationen geworden, nicht bloss in Italien, sondern im ganzen Occident, dessen gelehrte Sprache, namentlich seit Karl dem Grossen das Latein geworden war. Hippokrates und noch mehr Galen wurden von der Kirche anerkannt und sie erlangten, wenn auch nicht durch ausdrückliche Sanction der Kirche, nach und nach die Stellung wirklicher Kirchenväter, an deren Zuverlässigkeit zu zweifeln als ein Sacrileg erachtet wurde....
    Der erste, der einen Angriff auf das Wesen der Humoralpathologie, die Krasenlehre, machte, war Theophrastus Paracelsus Bombast von Hohenheim (1493—1542). Derjenige aber, der das System Galens nach anderthalbtausendjähriger Herrschaft zum Sturz brachte, war der geniale William Harwey, der Begründer der modernen Physiologie. Die persische Medicin steht jedoch noch heute unter der Herrschaft der Galenischen Krasenlehre."

    (Ludwig Israelson: Die "materia medica" des Klaudios Galenos, 1894)
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